|
Von: Pfr. Dr. Frank Hofmann
In der Literatur zur
Kirchen(raum)pädagogik1 werden häufig Projekte
aus größeren Städten vorgestellt. Im Folgenden soll dargestellt werden,
welche kirchen(raum)pädagogischen Aktivitäten in einer hessischen
Kleinstadtgemeinde in den vergangenen Jahren erprobt wurden. Die Stadt
Wetter (Hessen) hat in der Kernstadt rund 4.700 Einwohner, von denen
rund 2.800 evangelisch sind. Im Mittelalter entstand in der damals
recht bedeutenden mittelhessischen Stadt ein Kanonissenstift und in der
Folge im 13. Jahrhundert auch eine Stiftskirche, die als ein
Nachfolgegebäude der nahe gelegenen Marburger Elisabethkirche eine der
ältesten gotischen Kirchen Deutschlands ist. Ende des vergangenen
Jahrhunderts wurde die Kirche umfassend saniert und in diesem
Zusammenhang stellte sich für die Kirchengemeinde auch die Frage nach
der künftigen Nutzung des Gebäudes über die Gottesdienste hinaus2.
Neben einem deutlichen kirchenmusikalischen Schwerpunkt etablierten
sich auch vier verschiedene Angebote, über die unter der gemeinsamen
Überschrift »Kirchen(raum)pädagogik« berichtet werden kann.
I. Veranstaltungsreihen zu
Kunstwerken in der Kirche
1. Ein mittelalterliches Altarbild
Die
Stiftskirche Wetter beherbergt ein wertvolles Altarretabel aus der Zeit
um 1250, das während der Sanierungsarbeiten ebenfalls restauriert wurde
und für rund zehn Jahre nicht in der Kirche zu sehen war. Als das Bild
Anfang 2001 in die Kirche zurückkehren sollte, war im Kirchenvorstand
schnell Einigkeit darüber erreicht, dass ein bedeutendes Kunstwerk und
Andachtsbild nach zehnjähriger Abwesenheit nicht »einfach so« wieder in
der Kirche aufgestellt werden konnte. So gab es einen Festgottesdienst
zur Rückführung des Bildes und einen Vortrag über das Altarbild. In der
Passionszeit des Jahres 2001 fand in jeder Woche eine Passionsandacht
zu je einer der sieben Passionsszenen des Retabels statt. Diese
Andachten stießen in der Region auf eine erfreuliche Resonanz, was umso
erfreulicher war, als es über Jahre hinweg keine Passionsandachten in
der Gemeinde mehr gegeben hatte.
In der Folge
entstand ein Andachtsheft mit Texten und Bildern, das in der Gemeinde
über fünf Jahre hinweg zu den »runden« und »halbrunden«
Seniorengeburtstagen verschenkt wurde3. So
konnte nicht nur die Finanzierung des Heftes gesichert werden (in
diesen Jahren wurde keine anderen Bücher für die Geburtstage gekauft),
sondern es war auch zu beobachten, dass dieses Büchlein aus der
»eigenen« Kirche bei den Adressaten durchaus eine höhere Wertschätzung
erfuhr als die sonst zu Geburtstagen üblichen Verteilschriften.
So
kehrte das Altarretabel nach zehnjähriger Abwesenheit nicht nur wieder
an seinen angestammten Platz in der Stiftskirche zurück, sondern es
wurde auch wieder als Andachtsbild in Gebrauch genommen. Und die in
diesem mittelalterlichen Kunstwerk Bild gewordene Verkündigung wurde
darüber hinaus in gedruckter Form in viele Häuser der Gemeinde getragen.
2. Moderne Kirchenfenster
Als
das von den beiden großen Kirchen ausgerufene »Jahr der Bibel 2003« vor
der Tür stand, entstand die Idee, das Kirchengebäude mit dem Thema
»Bibel« ins Gespräch zu bringen. Dazu boten sich die von Hans Gottfried
von Stockhausen in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts geschaffenen
Chorfenster geradezu an. So wurde eine Veranstaltungsreihe unter dem
Titel »Die Botschaft der Bibel in den Fenstern der Stiftskirche Wetter«
konzipiert: Die in den Stockhausen-Fenstern aufgenommenen biblischen
Texte und Themen sollten als Wegweiser in die Bibel hinein wahrgenommen
werden, sollten als Impuls für die eigene Beschäftigung mit der
Botschaft der Bibel rezipiert werden. In der Zeit vom 1. Advent 2002
bis zum Volkstrauertag 2003 fanden eine Reihe von Gottesdiensten,
Andachten und Gemeindeabenden statt, bei denen die Fensterbilder und
die in ihnen rezipierten biblischen Texte im Mittelpunkt standen.
In
der Tradition mittelalterlicher Glaskünstler hält Stockhausen sich an
die von der Architektur vorgegebenen Strukturen, so dass sich innerhalb
der Gesamtkomposition der Fenster in jedem – von Maßwerk und Windeisen
umgrenzten – Feld der Fenster ein einzelnes Bild befindet. Für die
Gottesdienste wurden Fotos der einzelnen Motive in die
Gottesdienstprogramme eingeklebt, so dass die Gemeinde die Bilder
jeweils detailliert vor Augen hatte. Dass ich bei Besuchen in der
Gemeinde diese Bilder dann in mancher Wohnung wieder sah, bezeugt einen
»Mehrwert« solcher Gottesdienstprogramme.
So ergab
sich eine Veranstaltungsreihe für das »Jahr der Bibel«, die sich von
den Gottesdiensten über Gemeindeabende bis hin zu den regelmäßigen
Gruppen und Kreisen der Gemeinde erstreckte. Angeregt und angeleitet
durch die Bilder in den Fenstern der Stiftskirche kamen Menschen mit
Geschichten der Bibel in Kontakt und entdeckten ein seit vier
Jahrzehnten in der Kirche befindliches Kunstwerk neu4.
II. Kirchenerkundungen mit
Kindern und Jugendlichen
Sowohl
im Kontext des Religionsunterrichts als auch im Fach »Heimatkunde« sind
die örtlichen Kirchen regelmäßig besuchte außerschulische Lernorte. Im
Gottesdienstraum hat es sich bewährt, die Kinder schlicht danach zu
fragen, was sie sehen, wie sich dieser Raum von ihren eigenen Zimmern
und Wohnungen unterscheidet, wozu die einzelnen Einrichtungsgegenstände
da sind und so weiter. Kleinere Übungen, bei denen die Kinder
ausprobieren können, wie das Licht an einzelnen Stellen des Raumes
wirkt, wie sich der Raum »anhört«, wie sich bestimmte Orte im Raum
»anfühlen« und ähnliches vervollständigen das Besuchsprogramm, bei dem
eine Doppelstunde wie im Fluge vergeht. Neben dem Gottesdienstraum
selbst sind die sonst verborgenen Räume der Kirche wie Krypta,
Dachboden und Glockenturm für Kinder immer eine Entdeckungsreise wert.
Solche
Kirchenerkundungen mit Schulklassen finden in der Regel als einmalige
Aktion in einer Doppelstunde statt, in einem Fall konzipierte eine
Referendarin aber auch eine längere Einheit für den Religionsunterricht
mit mehreren Kirchenbesuchen.
Aus Erfahrungen mit
Schulklassen entstand die Konzeption einer Kirchenerkundung mit
Konfirmandinnen und Konfirmanden, die zu einer intensiven Wahrnehmung
und einer ersten Aneignung des Kirchenraums motivieren soll. Diese
Einheit steht jeweils relativ am Anfang eines Konfirmationskurses und
wird als dreistündiger Vorkonfirmandennachmittag durchgeführt. Dazu
wurden insgesamt 50 Fotos der Kirche angefertigt, die entweder Details
der Kirche (z. B. einen Totenkopf auf einem Grabstein, einen Türgriff
oder das Detail einer Schnitzerei am Chorgestühl) oder aber die
Gegenstände aus ungewohnter Perspektive zeigen (z. B. eine Deckenlampe
direkt von unten). Die Fotos wurden im Format 13x18 cm vergrößert und
anschließend – um der Haltbarkeit willen – im Format A 5 laminiert.
Anschließend wurden die Bilder in zwei Serien à 25 Stück aufgeteilt und
jeweils von 1–25 nummeriert (ausgehend von einer Gruppengröße von ca.
25 Jungendlichen, die sich für diese Aufgabe in zwei Teilgruppen
teilen).
Jede Konfirmandin und jeder Konfirmand
erhält nun ein Arbeitsblatt, das neben dem Grundrissplan der Kirche
eine genaue Arbeitsanweisung enthält: Die Jugendlichen sollen die
abgebildeten Gegenstände (in der Kirche und an der Außenseite der
Kirche) finden und in den Grundrissplan der Kirche einzeichnen. Um die
Bilder zuordnen zu können, sind Aufmerksamkeit und Teamwork
erforderlich. Anschließend werden die Bilder im Plenum präsentiert und
es wird gemeinsam eine Deutung der einzelnen Gegenstände versucht. Am
Ende dieser Einheit kennen die Konfirmandinnen und Konfirmanden Details
ihrer Kirche, die selbst altgedienten Kirchenvorstandsmitgliedern
unbekannt sind.
III. Offene Kirche
In
den vergangenen Jahren gibt es in den verschiedenen evangelischen
Landeskirchen zahlreiche Bestrebungen, die Kirchengebäude auch
außerhalb der Gottesdienstzeiten zu öffnen. Aufgrund von erheblichen
Bedenken im Blick auf die wertvolle Ausstattung der Stiftskirche und in
unregelmäßigen Abständen wiederkehrende Vandalismusvorfälle im Umfeld
der Kirche konnte der Kirchenvorstand sich nicht dazu durchringen, die
Kirche einfach tagsüber zu öffnen, wie das andernorts der Fall ist.
Allerdings fand sich ein Kirchenvorsteher, der seit mehreren Jahren
eine Gruppe von Ehrenamtlichen organisiert, die die Kirche von Mai bis
September mittwochs für zwei Stunden unter Aufsicht öffnet.
Als
Einladung zu persönlicher Andacht und Gebet steht seit einigen Jahren
ein »Weltkugelleuchter« nach schwedischem Vorbild in der Kirche, an dem
eine Gebetskerze angezündet werden kann. Es liegen Bibeln, Gesangbücher
und Gebetstexte aus. Für kulturell Interessierte steht ein Flyer zur
Verfügung, mit dem man die Kirche auf eigene Faust erkunden kann. An
einem Schriftentisch werden Postkarten und Literatur über die Kirche
angeboten.
Darüber hinaus gibt es Planungen, von
Zeit zu Zeit Ausstellungen in die Kirche zu holen und so zusätzliche
Gelegenheiten und Zeiten der Kirchenöffnung zu erreichen.
IV. Geistliche Kirchenführungen
Anregungen
aus der Literatur aufgreifend5, wurde eine
»geistliche Kirchenführung« durch die Stiftskirche Wetter konzipiert,
zu der über die Presse eingeladen wurde. An verschiedenen Stellen der
Kirche wurden die jeweils in kurzen Sequenzen architektonische Merkmale
und Einrichtungsgegenstände – immer auch im Blick auf ihren aktuellen
Bezug zu Leben und Glauben – erläutert. Musikalische Zwischenspiele und
einige gemeinsame Lieder so wie ein liturgischer Abschluss mit Gebet
und Segen prägten den gottesdienstlichen Charakter dieser
Kirchenführung, die in veränderter Form immer wieder einmal für
bestimmte Gruppen angeboten wird.
Folgende Stationen
der Kirche werden dabei begangen:
•
Beginn vor der Kirche: Aus dem Alltag über die Schwelle in
den Kirchenraum treten, den Raum auf sich wirken lassen.
•
Weg durch den Kirchenraum an den Grabsteinen und Epitaphien
an den Wänden vorbei: Wir erinnern uns an die Mütter und Väter im
Glauben und nehmen wahr, dass wir in einer langen Kette von Glaubenden
an diesem Ort stehen, die hier vor uns gebetet und gesungen, geredet
und gehört, gelobt und geklagt, geglaubt und gezweifelt, gehofft und
getrauert haben.
•
Altar und Taufstein: Erinnerung an die biographischen
Stationen, die uns mit dieser (oder einer anderen) Kirche verbinden:
Taufe, Konfirmation, Trauung, Totengedenken.
•
Kirchenfenster: Das Licht wahrnehmen, das den Raumeindruck
(mit) prägt. Die Motive der Fenster bewusst in den Blick nehmen,
eventuell eine der dargestellten Geschichten erzählen.
•
Weltkugelleuchter: Liturgischer Abschluss mit Gebet und Segen.
V. Schlussfolgerungen
Die
Erfahrungen in der Stiftskirche Wetter in den vergangenen Jahren haben
gezeigt: Auch in einer Kleinstadt, die keine Kirche inmitten einer
Fußgängerzone hat, gibt es zahlreiche Möglichkeiten für kirchen(raum)
pädagogische Aktivitäten in der Gemeindearbeit. Wohl jede Kirche bietet
Anhaltspunkte, die vom Glauben unserer Vorfahren zeugen und uns zur
eigenen Begegnung mit dem Glauben anregen können. Und wohl jede
Gemeinde kann in ihrem Gottesdienstraum neue und unbekannte Zeugnisse
des Glaubens entdecken. Solche Wahrnehmung der Botschaften, die unsere
Kirchenräume immer schon darstellen, wird die Verkündigung in Wort und
Sakrament nicht ersetzen, wohl aber ergänzen und unterstützen können.
Wenn eine Gemeinde ihren Gottesdienstraum bewusst wahrnimmt, kann das
durchaus auch Konsequenzen für die Gestaltung ihrer Gottesdienste
haben, vielleicht auch die eine oder andere Veränderung im Raum zur
Folge haben6.
Im Blick auf
die Resonanz der unterschiedlichen Veranstaltungen konnten wir auch
beobachten, dass die beschriebenen Angebote auch Menschen erreicht
haben, die durch die anderen Angebote der Kirchengemeinde eher selten
oder auch gar nicht erreicht werden. Nicht zuletzt darum kann ich nur
Mut machen, auch in Kleinstädten kirchen(raum)pädagogische
Arbeitsformen und Angebote auszuprobieren.
Anmerkungen:
1
Bei der eigenen praktischen Arbeit in den vergangenen Jahren
waren mir zwei Bücher sehr hilfreich: (1) Sigrid Glockzin-Bever/Horst
Schwebel (Hg.): Kirchen – Raum – Pädagogik (Ästhetik – Theologie –
Liturgik Bd. 12), Münster u. a., 2002. (2) Birgit Neumann/Antje Rösner:
Kirchenpädagogik. Kirchen öffnen, entdecken und verstehen. Ein
Arbeitsbuch. Mit einer kunstgeschichtlichen Übersicht von Martina
Sünder-Graß, Gütersloh 2003.
2
Vgl. Frank Hofmann: Thesen zur kirchlichen Baudenkmalpflege,
DtPfrBl 102 (2002), 237. Einen »virtuellen Kirchenrundgang« durch die
Stiftskirche Wetter gibt es im Internet:
http://www.kirchspiel-wetter.de/kirchenrundgang.php.
3
Das Retabel der Stiftskirche in Wetter, im Auftrag des
Kirchenvorstands der Evangelischen Kirchengemeinde Wetter (Hessen) hg.
v. Frank Hofmann, Kassel 2001 (ISBN: 3-89477-930-6), 48 S. Die Texte
und Bilder sind auch im Internet verfügbar:
http://www.kirchspiel-wetter.de/predigten.php.
4
Auf Wunsch des Kirchenvorstands entstand auch aus dieser
Veranstaltungsreihe ein Buch: Frank Hofmann: Das Wort ward Fleisch und
wohnte unter uns. Die Botschaft der Bibel in den Stockhausen-Fenstern
der Stiftskirche Wetter. Mit Beiträgen von Hans Gottfried von
Stockhausen und Karl-Ludwig Voss, Kassel 2004 (ISBN: 3-89477-908-X),
160 S.
5 Vgl.
Neumann/Rösener, aaO, 77ff.
6
Vgl. Wolfang Hermann: Zeit und Raum in der Kirche. Am
Beispiel der Neugestaltung eines dörflichen Kirchenvorraums, DtPfrBl
105 (2005), 188–191, der über die theologisch sorgfältig reflektierte
und unter ausführlicher Beteiligung der Gemeinde konzipierte
Umgestaltung einer Dorfkirche berichtet.
Über den Autor Dr.
F. H., geb. 1964, Dr. theol., Pfarrer, Gemeinde- und
Organisationsberater; seit 1. Mai persönlicher Referent des Bischofs.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt -
Heft: 8/2006 |