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Kirchenbauten in der Gegenwart Autor: gs

TitelbildNollert, Angelika; Volkenandt, Matthias; Gollan, Rut-Maria; Frick, Eckard (Hg.): Kirchenbauten der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit, Regensburg 2011 [Friedrich Pustet].
39,90 EUR

Zur Theologie des Kirchenraums liegt mit der vorliegenden Sammlung ein inhaltlich gewichtiges Werk vor. Wer das Buch im Bildbandformat in die Hand nimmt, wird vermutlich zunächst mit einer Darstellung von "Kirchenbauten in der Gegenwart" rechnen. Tatsächlich bildet die Vorstellung von 23 Kirchen in Text und Bild allerdings nur einen etwa 60 Seiten starken Mittelteil im Buch. Der Schwerpunkt liegt auf Textbeiträgen von ausgewiesenen Fachleuten auf wissenschaftlichem Niveau. Dabei dreht sich die interdisziplinäre Sicht um den sakralen Raum und seine Funktion in der räumlichen und sozialen Wirklichkeit unserer Zeit.

Dieses Thema lässt sich holzschnittartig auf die Formel "sakral versus profan" bringen. Dazu beinhaltet der Band Beiträge von Autoren, die aus unterschiedlichen Disziplinen die Diskussion zur Sache in den letzten Jahren bewegt haben. Die Herausgeber haben dadurch ein Kompendium zum Stand der Diskussion etwa 50 Jahre nach deren intensivem Beginn in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts geschaffen, das als Referenz für die weitere Behandlung dienen kann. Wer über "sakral und profan" mitreden will, sollte diesen Band kennen.

Die Zusammensetzung der Beispiele und Autoren ist ökumenisch angelegt. Konfessionelle Differenzen spielen keine große Rolle. Die meisten Beiträge schließen bewusst beide großen Konfessionen in Deutschland ein. Einige deutlich katholische Beiträge und etwas Überhang katholischer Beispielen und Autoren lassen den Sammelband die bayrische Stadtluft atmen, in der er redaktionell entstanden ist.

Statements

Zwischen die Aufsätze haben die Herausgeber Statements von Personen des öffentlichen und kirchlichen Lebens eingestreut. Mit welcher Fragestellung diese erbeten wurden, wird dadurch deutlich, dass sie auf unterschiedliche und doch im Ganzen einvernehmliche Weise betonen, welcher Wert den Kirchenbauten als sakralen Räumen in der Wirklichkeit zukommt. Außerdem nehmen diese Persönlichkeiten Stellung zur Frage der Aufgabe oder Umnutzung von Kirchengebäuden.

In diesen Statements versammelt sich eine ganze Reihe von interessanten Definitionsversuchen, die die Besonderheit des sakralen Kirchenraumes begrifflich zu fassen trachten: Helmut Braun nennt kirchliche Räume "Zwischenräume" (22), Annette Schavan zitiert Rilkes Wortschöpfung "Weltinnenraum" (208). Für Albrecht Gerhards muss der Kirchenraum der Allgemeinheit zugänglich und nutzbarer "Frei-Raum" sein (66). Mit ausdrücklicherem Gottesbezug heißen Kirchenräume bei Erich Garhammer "Leerstellen für die Transzendenz" (56), bei Eberhard Schockenhoff "durch das Kirchengebäude symbolisch freigehalten[er Platz] für Gott" (215) und als offener Raum bei Gregor Maria Hoff "Wartehallen Gottes" (142).

Einige verweisen auf Nollis Plan von Rom von 1748, in dem "das Haus Gottes als Teil des öffentlichen Raumes angesehen wurde (u.a. Andreas Denk, 40). Kirchen bilden "Säulen der Stadtidentität" (Michael Christian Müller, 197). Andere lenken den Blick mehr auf die persönliche Bedeutung und nennen die Kirchen "Orte, die es erlauben, die »Wunden zu zeigen«" (Thomas Sternberg, 244). Florian Schuller formuliert "etwas pathetisch": "Die »Alternität«, die Andersheit gegenüber der sonst sich uns einprägenden Wirklichkeit sollte ahnbar werden für jeden, der eintritt" (225).

Das liegt nahe am Begriff der "Heterotopie", den im Buch vor allem der Beitrag von Eckhard Frick im Anschluss an Michel Foucault stark macht. Aus der Polarität von Spielraum und materiellem Raum, bzw. der anthropologischen Dichotomie von Leib und Körper, entsteht das "heterotope Paradox des Sakralraums, der die Unvereinbarkeiten vereinbart" (42/43). Der Beitrag des Mitherausgebers, Priesters und Münchner Professors scheint mir der integrierende Aufsatz im Buch zu sein, der auch den Übergang von theoretischen Überlegungen zur konkreten Raumgestalt schafft.

Aufsätze

Kirchenräume als Heterotopie aufzufassen charakterisiert den Mainstream im Buch. Damit ist deutlich: Die gegenwärtige wissenschaftliche Diskussion der Kirchenraumfrage steht in der Frage "sakral oder profan" deutlich auf der Seite des Sakralen, nicht zuletzt aus außerkirchlicher Sicht. Dazu sammelt Stefanie Duttweiler Positionen ("Räume zwischen Religion und Politik", 190ff). Die "Sakralität der Leere" (Beitrag von Friedhelm Mennekes, 236ff) und Kirche als Kunstraum und liturgischer Raum prägen die Spiritualität. Man zeigt sich offen für kirchenadäquate Umnutzungen, aber nur für den allerletzten Fall. Einige gelungene Beispiele werden zwar gezeigt, aber Vorbehalte bleiben spürbar. Nur Sven Sabary (198ff) geht die Thematik mit Zuversicht im Blick auf positive Auswirkungen auf den Gemeindeaufbau an. Er beschreibt Beispiele in Frankfurt auf dem Hintergrund konkreter Erfahrungen mit Beteiligungsprozessen in Gemeinden. Das ist ein Thema, für das der nachfolgende Beitrag von Max-Josef Schuster methodische Anleitung gibt. Matthias Ludwig liefert dazu noch einmal drei ausführliche Praxisbeispiele, die leider unbebildert sind.

Den historischen Einstieg in die Thematik lassen die Herausgeber den Erlanger Kirchenhistoriker Hans Christof Brennecke unternehmen mit einem Rückblick auf den "Streit um den Kirchbau des Protestantismus im 19. Jahrhundert" (12ff). Die damalige Forderung nach dem sakralen Raum sorgte für die erste profilierte Diskussion um den Kirchenraum, die mit der anschließenden Kontroverse bis etwa 1900 Grundlagen legt für die Auseinandersetzung zwischen Sakralraum und Gemeindekirche.

War die Thematik vom 19. Jahrhundert her innerprotestantisch entstanden, so erfasste sie im Weiteren die beiden großen Konfessionen insgesamt. Carola Jäggi stellt am Ende eines Schnelldurchgangs durch das Kirchenraumverständnis im Christentum zwar fest, dass sich nichts geändert habe an der "grundsätzlichen konfessionellen Differenz" zum Wesen des Kirchenraums, dass aber andererseits die unterschiedlichen Positionen hier wie dort vorkämen und im Einzelnen eine "»Katholisierung« des evangelischen Kirchbauverständnisses" und eine "»Evangelisierung« des katholischen zu beobachten" sei (27, genannt werden Klemens Richter und Manfred Josuttis). Dass die Grenzen zwischen den Konfessionen "in den letzten Jahren bis zur Unkenntlichkeit verschliffen" (27) wurden, liege vor allem daran, dass theologische Kategorien zugunsten von "wirkungsästhetischen Kategorien" in den Hintergrund rückten (28).

Demgegenüber konfessionell geprägt sind die rahmenden Beiträge im zweiten Teil: Ein Beitrag aus katholisch-dogmatischer Sicht von Bertram Stubenrauch und Ysabel von Künsberg definiert das Verhältnis von Kirchbau und Glaube (144ff): Die Priorität liegt für die Autoren beim Glauben und nicht bei Steinen und Gefühlssachen. Im letzten Beitrag stellt der Liturgiewissenschaftler Winfried Haunerland Aspekte zur liturgischen Gestaltung bei der Aufgabe einer Kirche dar, die im Blick auf Gedanken zur Beteiligung und Symbolik aber auch für protestantisches Handeln anregend sein können (245ff).

Der Nürnberger Kunsthistoriker Christian Demand reflektiert über die Säkularisierungsthese und ihr Ende, gelangt aber nicht zu einer Anwendung auf die Kirchenraumfrage. Den Kirchenraum betreffend könnte es interessant sein, seiner quer zur Säkularisierungsfrage liegenden Beobachtung nachzugehen, dass sich das Religiöse in sich verändert hat weg von "den dogmatisch kohärenten, hierarchisch gegliederten, institutionell stabilisierten Formen" zu "heterogeneren und weniger leicht kontrollierbaren Anbietern religiöser Wirklichkeitsinterpretationen" (38). Ein Stück weit lässt sich dies meines Erachtens beobachten an der in diesem Sammelband immer wieder begegnenden erhabenen Sprache (vgl. oben die Begriffsbildungen in den Statements), die sich unterscheidet von der traditionellen kirchlichen Typologie einerseits und einer materiellen Architekturauffassung andererseits.

Überzeugender als eine Krise des Sakralen lässt sich für die Gegenwart eine Krise der Repräsentation zeigen. So tut es der stringente Beitrag von Michael Hirsch, der beschreibt, dass sich politische und religiöse Gemeinschaften heute "jenseits des Prinzips der Identität" vorfinden (151). Kirche und Staat stehen "im Zeichen einer allgemeinen Identitätskrise" (153). "Die Identitätskrise kann, so die hier vertretene These, nicht durch das Angebot und die Festigung stabiler Identitäten überwunden werden; sie kann nur überwunden werden durch die Überwindung des Denkens der Identität" (153). Von dort aus gelangt Hirsch zur Perspektive von Frei-Räumen: eine "Ästhetik der Unscheinbarkeit" könnte Orte schaffen, die nutzbar sind für offene, identitätslose Gemeinschaften (157). Meines Erachtens könnte von dieser Einsicht her eine Konsequenz für die kirchliche Immobilienplanung sein, dass sie davon auszugehen hat, dass Kirchengebäuden nicht mehr dadurch Wert zugemessen wird, weil sie Kirchen sind. Nicht das "Kirche sein" wird die Weiterbehandlung eines Kirchenbaus bestimmen, sondern seine unterschiedlichen Angebote. Die eine Kirche wirkt mit ihrer Ästhetik, eine andere durch Geschichte, diese durch ein bestimmtes den Raum benötigendes Kunstwerk und jene über praktische Nutzungsmöglichkeiten.

In ähnliche Richtung argumentieren Marc Redepenning und Benno Werlen, die vor der "Raumfalle" warnen, d.h. vor der Aufladung des Raumes indem diesem Eigenschaften zugeschrieben werden, die in Wirklichkeit nicht zum Raum gehören, sondern soziales Konstrukt der Nutzer sind (160). Entsprechend sprechen sie sich für die "Ermöglichung neuer Formen von gemeinschaftlicher Erfahrung" aus (164).

Noch einen Beitrag, der vor sakraler Übersteigerung warnt, liefert Dieter Hoffmann-Axthelm mit seiner Analyse, wonach die Kirche für die modernen Siedler per se keine relevante Planungsgröße sei. Das Mehrheitsinteresse der Stadtnutzer sieht er im Zweifelsfall mehr an Parkplätzen als einer Kirche (167). So muss die Kirche nach Hoffmann-Axthelm sich ihren Platz im Stadtgefüge erst holen. Die herausragenden Beispiele der letzten Jahre (er nennt einige bekannte, die sich auch im Bildteil finden) haben dies nach seiner Ansicht geschafft, indem sie Raum geben und zu sich kommen lassen. Erfolgreiche Beispiele zeigten, so Hoffmann-Axthelm, "ein kritisches Minimum, das über den Kreis der ausdrücklich Gläubigen hinausgreift: Raum für Religionsgedenken" (173).

Einige Beiträge widmen sich einzelnen besonderen Herausforderungen im Umgang mit dem Kirchenraum. Mitherausgeberin Rut-Maria Gollan skizziert Problematiken im Umgang mit den Kirchen der jüngeren Geschichte, zu denen noch keine etablierten Lesarten zur Verfügung stehen (54).

Eine für jedes Kirchenprojekt interessante Kategorie beschreibt der Liturgiker Benedikt Kranemann: Kirchen befinden sich in einer "Religionstopografie" (180), in einem Beziehungsnetz der Kirchen einer Gegend. "Kirchenfamilien" können liturgisch vernetzt werden und dadurch Bedeutung gewinnen (176).

Einen Blick in die Fremde werfen die Beiträge wie von Anke Köth über Wolkenkratzerkirchen (57ff) und von Eva Schäfer über die Umnutzungspraxis in den Niederlanden (226ff). In Weiternutzungsfragen von Kirchengebäuden kann der Blick in die Niederlande lehrreich sein, da die Grund- und Detailfragen sich im Lauf der Jahre nicht verändert haben (231). Schäfer mahnt zu Recht an, dass dazu eine systematische Auswertung erfolgen sollte (233). Einmal - beim Statement mit Blick auf den Kirchenraum in der Klinik durch den Klinikseelsorger Siegfried Kneissl (165) - klingt an, dass es Kirchenraumtypen gibt, die ich sonst im Buch nicht oder kaum erwähnt finde, z.B. Friedhofskapellen, Autobahnkirchen und (in der Praxis sehr relevant:) Dorfkirchen.

Beim Blick aufs Ganze fällt eine große Bandbreite der Disziplinen auf. Theologie, Architektur und Stadtplanung sowie Sozialwissenschaften kommen in fundierten Beiträgen ins Gespräch. Die am Gespräch Beteiligten sind allerdings darin einig, dass sie im großen Ganzen sakral angehaucht wirken und im großkirchlichen Raum argumentieren. Es fehlt die fundamental sakralismuskritische Position, die die Debatte einst eröffnet hat und nicht so ganz ausgestorben sein kann. Die soziale Frage und der Kirchenraum sowie ökologisch-ethische Herausforderungen werden nicht thematisiert.

Außerdem vermisse ich einen Blick auf die räumliche Verfasstheit der wachsenden Freikirchen. Wie gehen sie mit Kirchenräumen um, die sie übernehmen? Welche neuen "Kirchenräume" werden dort geschaffen? Welches Verständnis herrscht dort und welche Ausdrucksformen findet es?

Dokumentation

Vor den Dokumentationsteil haben die Herausgeber einen Vortrag von Rudolf Schwarz von 1956 gestellt, ergänzt durch eine Anwendung auf gebaute Beispiele der 50er- und 60er-Jahre aus der Feder seiner Mitarbeiterin und Frau Maria Schwarz. So bildhaft und formal übersetzbar die Schwarzsche Theorie auch spricht - für heutige, zumal evangelische, Ohren erscheint sie überhöht.

Trotz der Ausstattung mit 104 Farb- und 42 s/w-Abbildungen hätte ich eine reichlichere Bebilderung gewünscht, vor allem wo Beispiele im Text ausdrücklich besprochen werden. Im Dokumentationsteil findet man Beispiele für Kirchenneubauten und Umnutzungen, die einen Querschnitt durch die besten Projekte der letzten Jahre bilden. Dass dabei überwiegend Beispiele begegnen, die schon öfter publiziert und besprochen worden sind, kann kein Vorwurf sein, denn sie gehören einfach zu einer Darstellung der Thematik.

Der Leser findet in dem solide gemachten Band das Wichtigste um zur Diskussion des Kirchenraums in der Gegenwart auf der Höhe der Zeit zu sein.

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